Freund oder Feind?
Kinder entspringen unserer Fortpflanzungsfähigkeit, sind ein Produkt unserer natürlichen menschlichen Triebe*. Diese Triebe können verteufelt oder ehrfürchtig als Quelle von Wundern erkannt werden. Genauso wie auch folglich die Kinder.
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Wie wir Menschen mit uns selbst umgehen, ob wir unser Handeln und Schaffen als wertvoll und gut ansehen, oder ob wir uns eher als willenlose Opfer fühlen, ohne Handlungsspielraum, als bloße Handlanger anderer, das wirkt sich auch auf die Sicht auf unsere Kinder aus.
Wer ihren starken Lebens- und Entdeckerwillen als Bedrohung empfindet, weil der eigene Wille lange gebrochen ist, der hat wenig Interesse daran, Kinder wachsen, sich glücklich entwickeln zu sehen. Er wird danach trachten Kinder zu regulieren, wie er das auch mit Flüssen und Pflanzen tut, ihr Tun und Treiben in klare Bahnen zu lenken, weil er das selber ja auch erlebt hat. Die Bedrohung muss unter Kontrolle gehalten werden. Kinder müssen gebildet werden.
Biologie, Hirnforschung, Pädagogik, Kunst
In all diesen Bereichen wurden in den vergangenen Jahren Bücher und Filme veröffentlicht, die sich mit dem Thema Bildung beschäftigen. Und es werden immer mehr. Für mich zumindest, denn meine Spürnase entdeckt diese Thematik mittlerweile ja schon fast überall.
Zwei Bücher möchte ich zum Thema heraus greifen:
Eines stammt von John T. Gatto, einem Lehrer, der in New York in seinen fast 30 Jahren Amtszeit zahlreiche Auszeichnungen in seinem Fach erhalten hat. Es wurde von Dagmar Neubronner ins Deutsche übersetzt. (Neubronner ist Mutter der zwei berühmtesten deutschen Schulabbrecher, hat einen Verlag gegründet und veröffentlicht über diesen eine bunte Auswahl einschlägiger Werke zum Thema Freiheit des Lernens.)
Von dem Buch, im Englischen „Dumbing Us Down“, in der deutschen Übersetzung „Verdummt noch mal“, sind auf der Genius-Website ein paar Seiten online zum Einlesen.
Wer gedacht hätte, der viel geschätzte Lehrer beschreibt stolz seine pädagogischen Errungenschaften und verrät Tipps und Tricks für seine Berufskollegen, den hat sicher schon der Titel verwirrt. Und nach der Einleitung ist vollends klar, dass dieses Werk ein anderes Ziel verfolgt. Was die Kinderseele schon irgendwie gespürt hat, wird hier messerscharf analysiert und ohne Beschönigung vor uns ausgebreitet.
Die verdeckten Lektionen, die unabhängig von Inhalten an jeder Regelschule vermittelt werden, sind
nach Gatto:
- Verwirrung
- Gesellschaftliche Schichtung
- Gleichgültigkeit
- Emotionale Abhängigkeit
- Intellektuelle Abhängigkeit
- Labiles Selbstbewusstsein
- Man kann sich nicht verstecken
Lest selbst!
Als kleiner Appetithappen noch ein Zitat aus dem Vorwort: „Als ich in einem Vortrag unter anderem die berühmten sieben Gatto-Lektionen (Kapitel 1) präsentierte, verteilten wir vorher ‚Kotztüten‘ (wie im Flugzeug), nach dem Motto: Es könnte einem schlecht werden, wenn man begreift, wie Regelschulen die Lernfähigkeit unserer Kinder systematisch untergraben.“ (Vera F. Birkenbiehl)
Väter und Söhne
Aber es geht auch anders:
In „Mein Vater mein Freund Das Geheimnis glücklicher Söhne“ schreiben Arno und sein Sohn Andre Stern jeweils von ihrer Kindheit und Jugend und der Rolle, die der Vater in ihrem Leben spielt. Ein Bild von Respekt, Vertrauen und gegenseitiger Neugier entsteht vor dem Auge des Lesers/der Leserin, ein Bild der Entfaltung, der Kreativität und der Schaffensfreude. 
Die Umstände waren oft nicht gerade bequem und attraktiv, doch immer gab es Handlungsspielräume, für Eltern wie für Kinder. Und gegenseitiges Vertrauen, das auf einem generellen Vertrauen der Eltern in sich selbst fußte.
Was alles entstehen kann, wie originell und kraftvoll sich Lebenswege offenbaren, freut das Herz, inspiriert und gibt Vertrauen.
Das Potenzial Kinder
Was ist aus dem Vertrauen geworden, das Bauern ihrer Saat, Eltern ihren Kindern entgegenbringen? Es war Andre Stern in seinem Vortrag in Wels, der mit einem Bild das Publikum zumindest zum Lachen brachte.
Er erzählte von einem Mangokern, der in einem Glas Wasser nach wenigen Tagen aufbricht und zu keimen beginnt. „
Niemand würde sagen, das ist ein außergewöhnlich begabter Mangokern!“- Hier kam der Lacher. – Das ist es einfach, was Mangokerne tun, wenn sie die geeigneten Bedingungen vorfinden.
Aber Kinder, die ihre Talente entfalten, weil sie dafür Raum, Zeit und Vertrauen bekommen, gelten schnell als hochbegabt in Kontrast zu den vielen anderen, die dies nicht tun. Wenige nur erkennen, dass diesen bloß die geeigneten Bedingungen fehlen. (aus der Erinnerung an den Vortrag von Arno Stern am 13. Oktober 2014 in Wels)
Der Widerspruch in sich
Wundern wir uns denn noch über die verheerenden Flutkatastrophen, die Städte und Dörfer entlang säuberlich regulierter Flüsse heimsuchen?
Wundern wir uns noch über die jährlich widerstandsfähiger werdenden „Schädlinge“, die über pestizidgetränkte Felder und Plantagen herfallen?
Ich wundere mich nicht über die Gewalt und Aggressivität bei Kindern und Jugendlichen, deren Lebendigkeit durch sorgfältige Regulierung aller natürlichen Antriebe und gehirnwäscherischer Manipulation authentischer Wünsche und Bedürfnisse behindert wird. Wie die natürliche Kraft des Flusses muss auch die der Kinder irgendwo Ausdruck finden. Das ist physikalisches Gesetz!
Dies ist uns vielen ja schon einigermaßen klar, …
ABER …
gelingt es uns auch entsprechend dieser Erkenntnis zu handeln?
- Wagen wir es, entgegen aller medialer Berieselung, uns selbst in den Mittelpunkt zu stellen?
- Wagen wir es selbst zu denken und unseren Gefühlen (und körperlichen Symptomen) Glauben zu schenken?
- Wagen wir es unseren Kindern zu glauben anstatt ihnen weiter jede Kompetenz zur Wahrnehmung ihrer eigenen Bedürfnisse und Gefühle abzusprechen?
- Wagen wir es uns dem allgemeinen Fortschritt in den Weg zu stellen, uns aus dem Konkurrenzkampf zurück zu ziehen und gemeinsam mit anderen menschliche Werte entstehen zu lassen?
- Wagen wir es unsere natürlichen Triebe und unsere Kinder wieder als Quelle von Wundern zu erkennen?
Wunder
Wer braucht noch Wunder, wenn eh schon alles technisch machbar ist?
Unsere Kinder zeigen uns, dass wir alles lernen können. Ob Sprechen, Gehen, Freundlichkeit, Kämpfen, Mechanik, Geometrie, Tanzen, Schach Spielen, Ski Fahren, Zweifeln oder Vertrauen. Stimmen die Bedingungen, so werden sie entweder zu RennfahrerInnen oder zu SozialarbeiterInnen, zu BaumeisterInnen oder Reinigungsfachleuten, zu ehrlichen, mitfühlenden und selbstsicheren Persönlichkeiten oder zu aggressiven, zerstörerischen, hilflosen AußenseiterInnen.
Es ist k/ein Wunder. Und alles hat seinen Wert und seine Berechtigung!
Wichtig hier ist der Punkt, dass wir Vorbilder sind. Wie wir unsere Kinder sehen, so sehen sie uns, so sehen sie die Welt, so sehen sie sich selber. Sperren wir sie ein, regulieren wir sie, stecken wir sie in ein Korsett aus absolutistischen Strukturen, dann sehen sie unsere Eingesperrtheit, die Welt als tote Ödnis, sich selbst machtlos ohne Wert und Nutzen.
Wäre es nicht schön, wenn Kinder wachsen und lebendig bleiben könnten in dem Bewusstsein kompetent, stark und liebenswert zu sein, etwas in der Welt bewirken zu können und vor allem mit ihrem persönlichen Beitrag willkommen zu sein?
Können wir Kinder so sehen? Können wir zuerst einmal uns selbst so sehen?
Ich weiß, das ist ein gutes Stück Arbeit. Doch für alle, die es ernst nehmen, von großer Freude und bereicherndem Erfolg gekrönt.
Danke für dein Interesse und eine Wunder-volle Zeit!
Gabi