Heute Früh war ich schon aufgeregt, weil ich an den heutigen Reisebericht gedacht habe. Mir scheint, als hätten deshalb auch meine Körperübungen länger gedauert, weil ich mich dazwischen immer wieder besinnen musste, ganz da zu sein! Atmen, spüren, meinen Körper an diesem neuen Tag willkommen heißen. Ankommen.
Ich habe bereits Brotteig geknetet heute. Wundervoll! Wie schön auch, wenn der Teig in seiner Schüssel dann so richtig aufgeht. Und wenn er schließlich ein leckeres, flaumig-feines Brot wird beim Backen. Darauf freue ich mich jedes Mal.
Wie schön, wenn etwas zum richtig-gut-Werden Zeit hat! Zum Reifen. Zeit …!
Dabei denke ich an Vertrauen, an Loslassen, an so-sein-Lassen.
Vorhin ist mir so völlig klar geworden, dass wenige Kinder gegenwärtig dieses Vertrauen, diese Zeit bekommen.
Weil ich mich mit dem Heranwachsen von Menschen beschäftige. Sehr. Mit unserer ganzen Entwicklung, was wir lernen, und was uns auf dem Weg verloren geht. Und was wir tun können, damit es uns nicht verloren geht bzw. damit wir es wieder finden.
Deswegen habe ich auch kürzlich eine Spruchkarte gekauft, auf der folgendes zu lesen ist.
Die Karte klebt inzwischen auf der Zimmertür meines Sohnes, wo ich sie von meinem Frühstücksplatz aus sehen kann. Ich habe sie vorhin wieder einmal bewusst gelesen und damit eine Welle der tiefen Erkenntnis losgetreten.
Ein sehr beliebtes Thema in der Diskussion um Schule und Kindererziehung ist ADHS. Die Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitäts-Störung/Syndrom. Wie wir von den Medien vermittelt bekommen, handelt es sich um eine ernsthafte psychische Krankheit, und Eltern sind dementsprechend besorgt.
So besorgt, dass sie oft nicht einmal mehr in Erwägung ziehen, dass das Verhalten ihres Kindes vielleicht ganz natürlich ist bzw. ganz natürliche Ursachen hat. Eine Reaktion ist auf etwas, das es tagtäglich erlebt. Seine persönliche Imitation seiner Umwelt.
Mir ist klar geworden, dass die Gesellschaft ADHS hat!
Wir als Gesamtheit haben ein Aufmerksamkeits/Hyperaktivitätssyndrom! Mit unserem Radiogeplapper gleich in aller Früh, hektischer Musik, bedrohlichen Nachrichten von irgendwo weit weg; mit dem stressigen Weg zur Arbeit/in die Schule im morgendlichen Stoßverkehr, vollgestopfe Züge, U-Bahnen, Busse, endlos Autos, jeder für sich, oft rücksichtslos; mit ständiger Erreichbarkeit per Handy, Tablet, Notebook; mit starren Blicken auf Bildschirme überall, so wichtige Informationen, Ablenkungen, Zeitvertreib. Mit Respektlosigkeit gegenüber unseren tatsächlichen, natürlichen Entwicklungsbedürfnissen, die von genormten, fremdbestimmten Lernaufgaben zugeschüttet, durch ständiges Bewerten untergraben und durch vorgegebene Zeitraster zerstückelt werden.
Kinder lernen an Vorbildern. Kinder spiegeln die Gesellschaft wider, in die sie hinein geboren sind.
Kinder, die sehen, dass rund um sie herum niemand bei sich selber ankommt, niemand Ruhe hat, Ruhe ausstrahlt, Kinder, für die Hektik und Stress Alltag sind, und die vor allem erleben, dass ja auch ihnen keine Zeit zum Reifen und richtig-gut-Werden gelassen, kein Vertrauen geschenkt wird, – was sollen sie tun? Wie sollen sie bei sich selber ankommen?
Wertvolle Klarheit.
Ich bin nicht die Gesellschaft. Ich bin ein Teil davon. Ein Teil, der ohne Radiogeplapper in der Früh auskommt, der keinen Fernseher hat, der bewusst achtet, was auf Auge, Ohr, Nase, Zunge und Haut kommt. Und unter die Haut. Ich bin ein Teil, der weiß, dass er selber gestalten kann. Und der darauf achtet, dass mir selbst und auch meinem Sohn Zeit bleibt, Zeit zum Reifen, zum Wachsen, zum richtig-gut-Werden.
Kinder, die hyperaktiv sind, denen es schwer fällt sich zu konzentrieren, die ihre Aufmerksamkeit nicht bei einer Sache halten können, sind für mich wie Signallämpchen, die anzeigen: hier stimmt etwas nicht.
Gut, dass sie es zeigen! So können wir Erwachsenen erkennen, wann es wieder einmal gut wäre inne zu halten, durch zu atmen, zu landen, und bei uns selber anzukommen.
Einen wunderschönen Tag, an dem vieles richtig gut wird, wünsche ich uns allen!